Wiederkehr der Syphilis – Stadtspital Zürich (2024)

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Dass eine so bedeutende Krankheit wie die Syphilis einfach von derBildfläche verschwinden würde, war eine unrealistische Annahme der 80erund 90er Jahre. Die Krankheit, die erstaunlich viele Parallelen zurHIV-Pandemie aufweist, hat sich zurück gemeldet.

Die Syphilis, auch bekannt unter dem Namen Lues, ist eine weltweitverbreitete, chronisch verlaufende, bakteriell bedingte Krankheit, diemeist durch Geschlechtsverkehr übertragen wird, aber auch in derSchwangerschaft zur Infektion des ungeborenen Kindes führen kann.

Ursprung und Ausbreitung - vom Mittelalter bis heute

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Syphilis gehörte im Mittelalter neben Pest und Pocken zu dengefürchteten grossen Seuchen. Der Krankheit haftete etwasErschreckendes und Geheimnisvolles an: Sie war lebensbedrohend, führtezu Verunstaltungen, hatte einen kapriziösen Verlauf mit vermeintlichemAbheilen und Wiederauftreten von Symptomen in einer anderen Form undwies eine unerschöpfliche Variantenvielfalt auf. Zudem hatte dieSyphilis wegen der schon früh erkannten sexuellen Übertragung einenmoralischen und anstössigen Beigeschmack.

Für alle Menschen, dieüber die Jahrhunderte von der Krankheit betroffen waren, bedeuteteSyphilis stets eine persönliche Katastrophe. Dank der Erfindung desPenicillins durch Alexander Fleming (1928) konnte die Syphilis 1943erstmals erfolgreich therapiert werden.Die Frage der Entstehung ist bis heute nicht restlos geklärt. Die Theorie der „Alten Welt“ vermutet eine Mutation eines bestehenden Erregers, was einen plötzlichen Charakterwandel der Erkrankung mit aggressivem Verlauf verursacht hat. Die Theorie der „Neuen Welt“ postuliert die Einschleppung des Erregers aus Haiti durch Christoph Kolumbus. Einiges spricht für die zweite Theorie. Seit vor einigen Jahren in Hull (Grossbritannien) Knochen mit Syphilisbefall aus der Ära vor Kolumbus gefunden wurden, wird auch spekuliert, ob möglicherweise die Wikinger für die Einschleppung verantwortlich sein könnten.Die ersten Krankheitsfälle gehen ins Jahr 1495 in Neapel zurück, wo Karl VIII. von Frankreich mit seinem Söldnerheer von 32'000 Mann gegen Alfons II. zog. Diesem Heer gehörten auch ehemalige Seeleute von Kolumbus an. In beiden Armeen breitete sich die Seuche sehr schnell aus. Karl musste trotz siegreichem Einzug in Neapel seine Armee infolge der massiven, krankheitsbedingten Ausfälle auflösen. Die wenigen überlebenden Soldaten – sie stammten aus ganz Europa, inklusive der Schweiz – kehrten in ihre Heimatländer zurück und führten so zur schnellen Ausbreitung der Seuche. Von den 6000 Schweizern kehrten nur 148 nach Hause zurück, wo ihnen aus Angst vor Ansteckung der Einlass in die Stadt Bern verwehrt wurde.

Über 400 Bezeichnungen

In der Folge wurde die Seuche mit über 400 unterschiedlichen Namen versehen. Am häufigsten wurde sie nach ihrer Herkunft die „Franzosenkrankheit“ genannt. Es folgten Bezeichnungen nach äusseren Erscheinungen, nach vermeintlichen Ursachen, nach Verbreitungen und auch nach Heiligen – bis der Veroneser Arzt und Philosoph Girolamo Fracastoro diesem terminologischen Wirrwarr ein Ende bereitete und die Krankheit in seinem berühmten Gedicht „Syphilis, sive morbus gallicus“ nach dem Hirten Syphilis benannte, der Apollo dermassen erzürnte, dass dieser ihn mit der Krankheit bestrafte.

Diesexuelle Übertragung wurde als Unterscheidungsmerkmal zu anderenSeuchen relativ früh erkannt, deshalb haftete der Syphilis seit jeheretwas Moralisches und Anstössiges an. Einige Irrtümer hielten sichteilweise über Jahrhunderte, beispielsweise die Annahme, Syphilis seidie Folge von Unzucht und insofern eine Strafe Gottes. Auch wurdenimmer wieder Konstellationen gewisser Gestirne, insbesondere Saturn undMars, mit der Krankheit in Verbindung gebracht, was auch in einer derersten Darstellungen eines Syphilitikers von Albrecht Dürer zurAusdruck kommt.

Berühmte Syphilitiker

In der Renaissance erkrankten zahlreiche berühmte Herrscher an derSyphilis: Karl VIII., Franz I., Heinrich VIII. und Iwan derSchreckliche gehörten dazu. Betroffen waren auch Künstler wie Dürer und Cellini.

Die"Adeligkeit" der Krankheit veranlasste den Humanisten Erasmus vonRotterdam zur zynischen Bemerkung, dass ein Adliger ohne Syphilisentweder nicht sehr adelig oder kein richtiger Mann sei.

Über dieJahrhunderte wird die Liste der berühmten Syphilitiker immer länger undumfasst unter anderen Katharina die Grosse, Kardinal Richelieu, Goya,Flaubert, Beaudelaire, Schubert, Keats, Nietzsche, Gaugin, Maupassantund Oscar Wilde.

"Therapien" und Therapien

Erst 1905 entdeckten Schaudinn und Hoffman den Erreger, der heute Treponema pallidum genannt und wie die Borrelien zur Familie der Spirochäten gezählt wird.

Ein Jahr später gelang dem deutschen Bakteriologen August von Wassermann ein Test zum Antikörpernachweis im Blut, was künftig die Diagnose auch bei asymptomatischen Patientinnen und Patienten erlaubte.

Bis 1943 die erste erfolgreiche Therapie mit Penicillin durchgeführt wurde, durchliefen die Betroffenen über Jahrhunderte unzählige Therapieversuche, die teilweise das grössere Martyrium als die Krankheit selbst bedeuteten.

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Infolgeder ausgeprägten Zunahme der Geschlechtskrankheiten nach dem ErstenWeltkrieg wurden Gesetze zu deren Bekämpfung erlassen.Syphilis-Betroffene waren fortan nicht nur krank, sondern auch einerspeziellen Gesetzgebung unterstellt, was zu einer weiterenDiskriminierung führte.

Die sogenannte Aufklärung derBevölkerung durch Plakate und auch Filme, die vor allem aufAbschreckung und Angstmacherei basierten bewirkte, dass Betroffene dieSyphilis häufig verheimlichten und die Aktionen auch epidemiologischkontraproduktiv verliefen.

Das Joch der Geschlechtskrankheiten und die damit verbundene moralische Belastung gab auch Anlass zu Satire.

Glücklicherweise suchen uns die Patientinnen und Patienten im Dermatologischen Ambulatorium heute nicht mehr in der "Büsserhaltung" von damals auf.

Krankheitsverlauf in 3 Stadien

Traditionell werden im Krankheitsverlauf von Syphilis drei Stadien unterschieden.Nach einer Inkubationszeit von durchschnittlich drei Wochen kommt es amOrt des Erregereintritts in der ersten Krankheitsphase zu einerGeschwürsbildung. Der Erregereintritt erfolgt meist genital, kannjedoch auch an anderen Stellen, insbesondere im Mundbereich lokalisiertsein.

Das Ulkus ist charakteristischerweise schmerzlos und palpatorisch hart. Diese primäre Syphilis dauert meist 6 Wochen bis das Ulkus spontan abheilt und die Erkrankung durch eine Ausbreitung auf dem Blutweg ins zweite Stadium übergeht, das vor allem durch generalisierte Haut- und Schleimhautveränderungen gekennzeichnet ist. Diese Hautveränderungen können ausserordentlich vielgestaltig sein, was bereits früh zur Bezeichnung der Syphilis als „la grande imitatrice“, die grosse Nachahmerin, geführt hat.

In den alten Lehrbüchern wurden diese unterschiedlichenHautmanifestationen sehr differenziert beschrieben. Dieses Wissen istin den letzten Jahren zumindest teilweise verloren gegangen ist undmuss jetzt wieder erlernt werden. Insbesondere die unterschiedlichenSchleimhautveränderungen sind hochinfektiös.Unbehandelt können dieseManifestationen verschwinden und rezidivieren (wiederauftreten) bisnach Monaten die Latenzphase erreicht wird, wo keine Symptome mehrvorhanden sind und die Krankheit nur noch serologisch, überEigenschaften und Reaktionen des Blutserums, festgestellt werden kann.

Ein Drittel der Erkrankten treten dann in das dritte Stadium ein – dieTertiärlues –, wo es nach Jahren bis Jahrzehnten mehrheitlich zuManifestationen an der Haut, am Herz- und Gefässsystem, am zentralenNervensystem sowie am Bewegungsapparat kommt. Vor allem die Beteiligungdes kardiovaskulären Systems ist für die Todesrate von 10 Prozentverantwortlich. Diese tertiäre Lues, die bei uns aktuell nur sehrselten vorkommt, kann prinzipiell jedes Organ betreffen. Das komplexeErscheinungsbild der Syphilis bewegte den kanadischen Arzt und PionierSir William Osler Ende des 19. Jahrhunderts zur Feststellung: „He whoknows Syphilis, knows medicine“. (Wer sich mit der Syphilis auskennt,kennt die Medizin.)

Verbreitung der Syphilis

Im 20. Jahrhundert konnten inder Schweiz jeweils nach den Weltkriegen deutliche Anstiege derNeuinfektionen registriert werden. Ein weiterer Gipfel wurde 1962/63festgehalten, der mehrheitlich hom*osexuelle Männer betraf und durch diezur Verfügung stehende Antibiotikatherapie schnell eingedämmt werdenkonnte. In der Folge wurden national von den sechs schweizerischenPolikliniken für Haut- und Geschlechtskrankheiten jeweils nur 20 bis 40Fälle pro Jahr registriert.

Ende der 90er-Jahre erschienenmehrere medizinische Publikationen, die auf einen dramatischen Anstiegder Zahlen in der ehemaligen Sowjetunion hinwiesen. Beispielsweiseregistrierte die WHO 1999 in Russland 280'000 Neuinfektionen, sehr hoheZahlen wurden auch aus Kasachstan, aus der Ukraine, aus Kirgisien undMoldawien gemeldet. In der Folge war es nur eine Frage der Zeit, bisdie Zunahme auch im Westen dokumentiert werden konnte. Ausbrüchebetrafen ab 2000 die USA, Grossbritannien und Frankreich, was die USAveranlasste, ein nationales Programm zur Elimination der Syphilis bis2005 zu verabschieden. Dieses Programm beinhaltete eine verstärkteÜberwachung, eine schnelle Antwort auf Ausbrüche, die Schaffungvermehrter Anlaufstellen sowie eine vermehrte Aufklärung.

Steigende Zahlen auch in der Schweiz

Auchim Dermatologischen Ambulatorium diagnostizieren wir von Jahr zu Jahreine steigende Zahl von Syphilis: 2002 waren es 18 Fälle, 10 davon imStadium II. 2004 wurden 48 Patienten und Patientinnen mit Syphilis beiuns behandelt. Am häufigsten erfolgt die Ansteckung durch hom*osexuelleKontakte, gefolgt von Übertragungen durch weibliche Prostituierte.

Inzwischenhat auch das Bundesamt für Gesundheitswesen die Bedeutung erkannt unddie Labormeldepflicht in der Schweiz per 2006 wieder eingeführt.

Gründe für die Rückkehr der Syphilis

Zumeinen kann ein unrealistischer Optimismus („mich trifft es ja nicht“)beobachtet werden, der nach 20 Jahren „safer-sex“ in der HIV-Ära zueiner gewissen Kondom-Müdigkeit geführt hat. Speziell bei jüngerenErwachsenen, welche die ersten HIV-Präventionskampagnen nicht erlebthaben, besteht ein Informationsmangel. Andererseits haben dieFortschritte in der HIV-Therapie zu einem ungerechtfertigten blindenVertrauen geführt, sowohl bei HIV-negativen als auch bei HIV-positivenPersonen. Weiter bestehen sowohl durch eine vermehrte Reisetätigkeitals auch durch Migration Verbindungen zu Endemiegebieten, die schnellzu einer Ausbreitung führen können. In grösserem Umfang ist jedochungeschützter Oral-Sex für die Zunahme verantwortlich, da hierbeiinfolge Unkenntnis des Übertragungsrisikos von vermeintlichem „safersex“ ausgegangen wird, was jedoch beschränkt nur für die HIV-Präventiongilt.

Bedeutung der Rückkehr der Syphilis

Geschlechtskrankheiten sind immer auch Indikatoren für das sexuelle Risikoverhalten, insbesondere seit „safer-sex“ nicht mehr so konsequent praktiziert wird wie zu Beginn der HIV-Pandemie. Auch beunruhigt die Tatsache, dass diverse Wechselwirkungen zwischen Syphilis und HIV bestehen. Beispielsweise begünstigt eine Syphilis im ersten Stadium die Übertragung von HIV um das Drei- bis Fünffache.

Nachdem bereits in der ehemaligen Sowjetunion in den 90er-Jahren die Syphilis in der Schwangerschaft erheblich angestiegen ist, muss bei steigenden Syphilisraten auch bei uns wieder mit dieser Infektion gerechnet werden, die für das Kind tödlich ausgehen kann.

Fazit

Das Fazit: Mitder besiegt geglaubten Syphilis muss wieder gerechnet werden. Richtigdiagnostiziert ist die Infektion mit dem altbewährten Penicillin gut inden Griff zu bekommen. Ein schnelles Erkennen ist die Voraussetzung zurVerhinderung einer weiteren Ausbreitung. Infolge des vermeintlichspontanen Abheilens und der zum Teil unbemerkten Symptome ist es jedochbesonders wichtig, Risikogruppen (Prostituierte, hom*osexuelle, Freiersowie Migranten und Migrantinnen) wieder vermehrt routinemässigserologisch im Hinblick auf eine Syphilis zu untersuchen.

Weitere Informationen

Kontakt

Institut für Dermatologie und Venerologie

Gustav-Gull-Platz 5

8004 Zürich

Stadtspital Zürich Europaallee

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